Samstag, 11.00 Uhr, Madrid: In der Wandnische eines Geschäftshauses sitzt ein Bettler, in der einen Hand hält er einen Becher, in den vereinzelt Münzen geworfen werden, in der anderen hält er ein Buch, einem Hardcover mit grünem Einband, in dem er offenbar konzentriert liest. Samstag, 17.00 Uhr, Madrid: Der selbe Bettler sitzt am selben Ort und beginnt gerade in einem anderen Buch zu lesen, einem dicken Paperback diesmal. Er wirkt wie in einer anderen Welt, vermutlich liest er in einem Roman, der ihn von seinem Elend ablenkt, von dem lärmenden Verkehr, den Touristen und anderen Passanten.
Vor einiger Zeit wurde einmal in einem Nachrichtenmagazin folgende Szene beschrieben: Die Schickeria von Moskau feiert in einem Palast ein rauschendes Fest wie zu Zeiten des Zaren, man ist übersättigt, steinreich, skrupellos und brilliert nicht durch besonderen Intellekt; draußen im verschneiten Park kauert ein Obdachloser auf einer Parkbank - und liest Tolstoi. Ich konnte mir das gut vorstellen, denn Geld haben bedeutet ja unglücklicherweise nicht auch Bildung besitzen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, am vergangenen Wochenende, also Jahre später, die selbe Situation vor Augen geführt zu bekommen.
Ich war tief beeindruckt von dem lesenden Bettler in Madrid. Ich hätte ihn gerne angesprochen, aber da ich kein Spanisch spreche, konnte ich nicht sehr viel mehr tun, als seinen Becher irgendwie zu füllen. Doch frage ich mich seit dieser Begegnung, welches Schicksal diesen Mann in sein Elend getrieben haben mag. Vielleicht hat er noch Hoffnung auf ein besseres Leben, die Bücher sind möglicherweise das Sinnbild dafür. Dieser Leser hat mich tief berührt. Ich werde ihn nie vergessen und hoffe aus ganzem Herzen, dass er irgendwann in seinem Leben wieder einen anderen Platz finden wird, wo er seiner Passion nachgehen kann.
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